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Rilke Archaïscher Torso Apollos Interpretation

Rilke Archaïscher Torso Apollos:


 Rilke Archaïscher Torso Apollos

Rilkes „Archaïscher Torso Apollos“ ist ein tiefgründiges Gedicht, das die Kraft und die Wirkung von Kunst in den Mittelpunkt stellt.

Durch die Beschreibung eines unvollständigen, aber dennoch beeindruckenden antiken Kunstwerks vermittelt Rilke die Idee, dass wahre Schönheit und künstlerische Ausdruckskraft die Fähigkeit haben, den Betrachter zu verändern und ihn zur Reflexion über das eigene Leben zu bewegen. 

Abgeschlossen werden diese 14 Zeilen epochale Dichtkunst mit dem scheinbar aus dem Nichts auftauchenden Appell: “Du musst dein Leben ändern!” 

 

Archaïscher Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,

darin die Augenäpfel reiften. Aber

sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,

in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

 

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug

der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen

zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

 

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz

unter der Schultern durchsichtigem Sturz

und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

 

und bräche nicht aus allen seinen Rändern

aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Historischer Hintergrund:


Rainer Maria Rilke schrieb das Gedicht “Archaïscher Torso Apollos” (Gedichtband “Neue Gedichte 2. Teil”) im Jahre 1908. 

Bei diesem Werk handelt es um eines der bekanntesten Dinggedichte und ist als Hommage an den Bildhauer Auguste Rodin zu sehen.

Rilke arbeitete in den Jahren 1905/06 als Privatsekretär bei diesem bekannten Bildhauer.

Auguste Rodin war der erste Künstler, der den Torso als ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk schuf. 

 

Kurze Inhaltsangabe:


In den vier Strophen des Gedichts geht es um einen Torso (eine plastische Darstellung eines Körpers ohne Gliedmaße), der die Vollkommenheit nicht mehr nur in der Nachahmung der Natur interpretiert.

In einer Zeit in der die Natur beliebig nachgeahmt und reproduziert werden kann (z.B. Fotografie), nimmt das Unvollkommene, das Fragment einen höheren Stellenwert als das beliebig herstellbare Ganze ein.

Die erste Strophe beginnt mit der Aussage, dass der Kopf des antiken Torsos fehlt. Rilke hebt die Abwesenheit des „unerhörten Hauptes“ hervor, das nicht mehr sichtbar ist, jedoch noch in der Vorstellungskraft des Betrachters existiert. 

Trotz dieser fehlenden Komponente zeigt der Torso eine leuchtende Kraft, die mit einem Kandelaber verglichen wird.

Die Augen des Torsos, obwohl nicht vorhanden, scheinen dennoch eine Präsenz zu haben und strahlen eine Aura aus, die das Interesse des Betrachters weckt.

In der zweiten Strophe wird thematisiert, dass dem Torso nicht nur die Gliedmaßen fehlen, sondern auch die Geschlechtsteile (“zu jener Mitte, die die Zeugung trug”).

Die dritte Strophe bildet hingegen die Überleitung für die dramatische Wendung in der vierten Strophe, indem sie den Torso aus der Ebene der reinen Beschreibung erhebt (“Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz”) und ihm jetzt eine höhere Bedeutungsebene zuschreibt (“und flimmert nicht so wie Raubtierfelle;)

Die vierte Strophe bildet einen Bruch bzw. Tausch der Betrachtungsebene.

Jetzt ist es der Torso der vom Objekt zum betrachtenden Subjekt wird und den Betrachter zum Objekt degradiert (“denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht”).

Abgeschlossen wird das Gedicht mit dem Appell: “Du mußt dein Leben ändern.  

 

Themen und Motive:


1. Unvollkommenheit und Vollkommenheit:

Trotz der physischen Unvollständigkeit des Torsos wird dessen Vollkommenheit und transformative Kraft betont.

Die Schönheit des Kunstwerks inspiriert zur Selbsterkenntnis und Veränderung.

 

2. Die Macht der Kunst:

Rilke zeigt, dass Kunstwerke, selbst wenn sie beschädigt oder unvollständig sind, eine immense Wirkung auf den Betrachter haben können.

Die Kunst ist eine Quelle der Erleuchtung und kann den Betrachter dazu bringen, seine eigene Existenz zu überdenken.

 

3. Reflexion und Transformation:

Das Gedicht fordert den Betrachter auf, sich mit der eigenen Identität und dem Leben auseinanderzusetzen.

Die abschließende Aufforderung, das eigene Leben zu ändern, verdeutlicht die transformative Kraft, die Kunst auf das Individuum ausüben kann.

 

4. Spiritualität und Transzendenz:

Die Darstellung des Torsos als leuchtendes und strahlendes Objekt verleiht ihm eine spirituelle Dimension.

Diese Qualität der Kunst führt zu einer transzendenten Erfahrung, die über das Physische hinausgeht und das Innere des Betrachters anspricht.

Analyse der Struktur:


a) Strophen und Verse:

Das Gedicht “Archaïscher Torso Apollos” ist ein Sonett (Klanggedicht) mit 14 metrisch gegliederten Verszeilen, deren vier Strophen aus zwei Quartetten und daran anschließend zwei Terzetten zusammengesetzt sind. 

Die vier Strophen bzw. 14 Verszeilen sind vorwiegend im Präteritum und hier im Modus des Konjunktivs geschrieben.

Einzelne Sätze stehen im Präsens.

 

b) Metrum:

Das vom Autor gewählte Metrum ist ein Jambus mit jeweils fünf Hebungen. 

Hebung: X   Senkung: x

z.B. Wir kann-ten nicht sein un-er-hör-tes Haupt,

       x     X     x     X     x     X   x   X    x     X

 

c) Kadenzen:

Die Kadenzen sind bei den Quartetten außen männlich und innen weiblich.  

 

d) Reimschema:

Die Quartette sind umarmende Reime, gefolgt von einem Paarreim, der strophenübergreifend in zwei Kreuzreim mündet (“abba” – “cddc” – “eef” – “gfg”).

1. Strophe (Quartett): “abba” → Haupt – Bucht – Flucht – zurückgeschraubt 

2. Strophe (Quartett): “cddc” → Bug – Drehen – gehen – trug 

3. Strophe (Terzett): “eef” → kurz – Sturz – Raubtierfelle 

4. Strophe (Terzett): “gfg” → Rändern – Stelle – ändern 

 

e) Reimanordnung:

Hinsichtlich der Reimanordnung dominiert der Endreim: 

Haupt/zurückgeschraubt, Bucht/Flucht, Bug/trug, Drehen/gehen, kurz/Sturz, Raubtierfelle/Stelle, Rändern/ändern

Ein Binnenreim findet sich im Bereich Vers 6 und 7: blenden – Lenden

 

Rhetorische Stilmittel:


1. Metapher:

„wie ein Kandelaber“ (Zeile 3):

Der Torso wird mit einem Kandelaber verglichen, was auf seine leuchtende, strahlende Qualität hinweist. Diese Metapher verleiht dem Torso eine fast heilige, erleuchtende Präsenz.

„wie ein Stern“ (Zeile 11):

Die Strahlkraft und das Leuchten des Torsos werden mit einem Stern verglichen, was seine majestätische Ausstrahlung und die überirdische Qualität des Kunstwerks unterstreicht.

2. Personifikation

„sein Torso glüht“ (Zeile 3):

Der Torso wird als lebendig beschrieben, als ob er selbst Wärme und Licht ausstrahlen könnte. Diese Personifikation verstärkt die Idee, dass das Kunstwerk eine eigene Lebendigkeit besitzt.

„die dich nicht sieht“ (Zeile 13):

Der Torso wird mit der Fähigkeit des Sehens ausgestattet, was die Vorstellung unterstreicht, dass das Kunstwerk eine starke, durchdringende Wirkung auf den Betrachter hat.

3. Synästhesie

„glüht“ und „blenden“ (Zeilen 3-5):

Die Verschmelzung von visuellen und taktilen Empfindungen verstärkt die intensive Wirkung des Torsos. Das Glühen suggeriert Hitze und Helligkeit, während das Blenden die überwältigende visuelle Kraft beschreibt.

4. Enjambement

Zeilen 1-2, 3-4, 6-7:

Der fließende Übergang von einer Zeile zur nächsten ohne Pause betont die Ununterbrochenheit und Kontinuität der Gedanken und Eindrücke, die das Kunstwerk beim Betrachter hervorruft.

5. Anapher

„Sonst könnte…“ / „Sonst stünde…“ (Zeilen 5, 9):

Die Wiederholung des Wortes „Sonst“ zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze betont den Kontrast zwischen der tatsächlichen Erfahrung des Kunstwerks und einer hypothetischen Realität, in der das Kunstwerk seine Wirkung verliert.

6. Antithese

„Entstellt und kurz“ / „flimmerte… wie Raubtierfelle“ (Zeilen 9-10):

Der Kontrast zwischen einem hypothetisch entstellten Kunstwerk und seiner tatsächlichen Lebendigkeit und Strahlkraft unterstreicht die einzigartige Präsenz des Torsos.

7. Hyperbel

„glüht noch wie ein Kandelaber“ / „flimmerte nicht so wie Raubtierfelle“ (Zeilen 3, 10):

Die Übertreibung in der Beschreibung der Leuchtkraft des Torsos verstärkt die Vorstellung von seiner fast übernatürlichen Ausstrahlung.

8. Oxymoron

„unerhörtes Haupt“ (Zeile 1):

Die Verbindung scheinbar widersprüchlicher Begriffe, da ein Haupt, das nicht mehr existiert, nicht „unerhört“ sein kann, verweist auf die mysteriöse Aura des verlorenen Kopfes und die unvollständige Perfektion des Torsos.

9. Symbolik

Der Torso als Symbol:

Der Torso symbolisiert die unvollkommene Vollkommenheit und die Idee, dass wahre Kunst die Betrachter verändert und inspiriert, unabhängig von ihrer physischen Unvollständigkeit.

10. Imperativ

Du musst dein Leben ändern.“ (Zeile 14):

Der Imperativ in der Schlusszeile verstärkt die transformative und zwingende Kraft des Kunstwerks auf den Betrachter. Diese Aufforderung hebt die tiefgreifende Wirkung hervor, die das Erleben von Kunst auf das persönliche Leben haben kann.

Interpretation:


In seiner Gesamtheit betrachtet handelt es sich bei “Archaïscher Torso Apollos” um ein Dinggedicht, das weit über die Beschreibung eines Torsos hinausgeht.

Vielmehr wird mit der Bevorzugung des Unvollkommenen, des Fragments gegenüber der reinen Abbildung bzw. Nachbildung der Natur ein neuer Kunstbegriff implementiert.

Als Antwort auf alles durch die Wissenschaft berechenbare, vorhersehbare wird das bruchstückhafte (fragmentarische) ins Zentrum der Betrachtung gerückt.

Das überlässt dem Betrachter eine weiten bzw. individuellen Spielraum oder in Peter Sloterdijks Worten: “Intensität schlägt Standardperfektion”. 

Doch damit nicht genug tauscht Rilke in der vierten Strophe noch die Betrachtungsebene.

Das Objekt Torso degradiert jetzt den Betrachter zum Objekt  (“denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht”).

Abgeschlossen werden diese 14 Zeilen epochale Dichtkunst mit dem scheinbar aus dem Nichts auftauchenden Appell: “Du musst dein Leben ändern!” 

Diese Imperativform verdeutlicht die transformative Kraft des Torsos und die Kunst im Allgemeinen.

Die Aufforderung impliziert, dass wahre Schönheit und Kunst nicht nur oberflächlich betrachtet werden können, sondern tiefgreifende Veränderungen und Selbsterkenntnis im Betrachter hervorrufen.